60. Jahrestag eines deutsch-französischen Brückenschlags

Scharfenberger Schüler in Frankreich

Vor 60 Jahren, Ende März 1961, trafen Scharfenberger Schüler auf einer Frankreichreise mit jungen Franzosen zusammen. Was uns heute ganz natürlich und alltäglich erscheinen mag, war für die Teilnehmer der Reise ein tiefgreifendes Ereignis, denn in jenen Jahren war das Verhältnis zwischen beiden Völkern aufgrund der Kriege und Krisen nach wie vor alles andere als entspannt. Die Erinnerungen Prof. Dr. Heinz-Eberhard Mahnkes an diese Reise können Sie hier lesen. Er war Zeitzeuge dieser Epochenwende zwischen den beiden Nationen, die sich heute als Freunde und Partner verstehen und nicht mehr als Feinde. Wie dieser Weg in kleinen Schritten seinen Anfang nahm, zeigt uns sein Zeitzeugenbericht.

 

Ein kleiner Schritt auf dem Weg zum Elysée-Vertrag: Gegenseitiger Jugendgruppenbesuch Alsace-Berlin 1961

Politische Meilensteine werden zwar an einem festen Datum gesetzt, sie haben aber gewöhnlich eine Vorgeschichte. Oft sind es viele kleine Schritte, die einer offiziellen Vereinbarung, ja einem Vertrag wie dem Elysée-Vertrag vorausgehen.

Im Jahr 1961, zwei Jahre vor dem Elysée-Vertrag, fand ein deutsch-französischer Jugendaustausch statt, wie es sicherlich mehrere gab, bevor es nach Abschluss des Elysée-Vertrages zur Gründung des DFJW / OFAJ kam. So fuhr in den Osterferien 1961 eine Berliner Gruppe, die meisten davon Schüler der 11. Klasse der Schulfarm Insel Scharfenberg, einem Gymnasium im Internatsbetrieb im Nordberliner Bezirk Reinickendorf auf einer Insel im Tegeler See im französischen Sektor Berlins gelegen, unter der Leitung zweier junger Scharfenberger Lehrer, Ingeborg Mayr und Klaus Gottwaldt, ins Elsass. Umgekehrt kam es im Juli 1961 zu einem Gegenbesuch junger Franzosen aus dem Gebiet Belfort und Elsass in Berlin. Bereits dazu gibt es eine Vorgeschichte, die die wachsende Erkenntnis der Notwendigkeit und der Bedeutung der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich beleuchtet, wie sie im Elysée-Vertrag ihren ersten Höhepunkt fand:

Die Kontakte zwischen einer Initiative aus dem Elsass einerseits und den handelnden Pädagogen der Schulfarm Insel Scharfenberg andererseits gehen zurück auf M. René Blauel, einem Generalrat seit 1958 im Canton Ferrette, seinem Heimatort nahe der Schweizer Grenze. M. Blauel war im Krieg nach Buchenwald deportiert worden, kam gesundheitlich angeschlagen nach der Befreiung aus Bergen-Belsen nach Frankreich zurück und engagierte sich für die deutsch-französische Aussöhnung, u.a. in der Jeunesses Européennes Fédéralistes d’Alsace. Durch einen Motorradunfall ums Leben gekommen, konnte er den Austausch 1961 selbst nicht mehr miterleben. Die Betreuung der Berliner im Elsass und die Organisation des Gegenbesuchs in Berlin wurde weitgehend unter der Leitung von Jean-Louis Lipp von der „Section René Blauel“ der JEF in enger Zusammenarbeit mit Mitgliedern des „Centre Culturel Européen de Belfort“ durchgeführt. 

Die Reise ins Elsass ging über einen Abstecher im Saarland mit einstimmenden Vorträgen auf die Problematik der „Jeunesse Européenne“ und einem Besuch eines nahegelegenen Keltenwalls zunächst ins Territoire de Belfort mit Ausflügen zur Eglise Notre Dame du Haut in Ronchamp von Le Corbusier, zum Col de Croix, Ballon d’Alsace, Museumsbesuch in Belfort, einer Werksbesichtigung bei Peugeot in Montbéliard und einem Empfang bei der Gemeindeverwaltung. Über den Besuch der Berliner wurde in der lokalen Presse berichtet.  Im Elsass ging es dann nach Ferrette, damals, wie gesagt wurde, der kleinsten Gemeinde Europas mit Stadtrecht. Hier wurde Ostern gefeiert, die Teilnehmer waren auch privat „en famille“ untergebracht. Es folgte Colmar mit Unterbringung in einem Stift oder Kloster, mit Besuch von Husseren-les-Châteaux, der Heimat von Jean-Louis Lipp, natürlich mit Besuch beim Isenheimer Altar, auch wieder ein Empfang beim Bürgermeister, über den die Lokalpresse berichtet. Ein Abstecher bei einem Weinkeller durfte natürlich nicht fehlen. Ein Eindruck des Ausmaßes des Irrsinns der Kriege zwischen Deutschland und Frankreich war auf der Rundfahrt durch die Vogesen (Grand Ballon, Thann) der Abstecher zum Hartmannsweilerkopf. Zum Abschluss dann Strasbourg, wo beim Besuch des Europahauses der Eindruck eines Zentrums von Europa vermittelt wurde.

Beim Gegenbesuch in Berlin Anfang Juli 1961 konnte den Gästen aus dem Elsass noch der Kontrast zwischen West- und Ost-Berlin auf der obligatorischen Stadtrundfahrt vermittelt werden.  Die Unterbringung der Gäste war zum Teil auf der Schulfarm Insel Scharfenberg, zum Teil auch für einige Tage „en famille“. Damit gab es neben den gemeinsamen Veranstaltungen wie Besuch des Museums Dahlem (die Büste der Nofretete war damals dort zu sehen) und des Humboldtschlosses in Berlin-Tegel in direkter Nachbarschaft zur Insel Scharfenberg, dazu noch der Empfang beim Bürgermeister des Bezirks Reinickendorf, auch individuelle Unternehmungen in der Stadt. Als etwas Besonderes gab es zu der Zeit noch mögliche Theaterbesuche in Ost-Berlin, wie zur Aufführung des „Macbeth“ in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, aber auch Artischockenessen im Foyer de Garnison in Wedding, ein Treffpunkt für die französischen Armeeangehörigen, der aber zivile französische Besucher und deren Gäste einließ.

Viele Details der Reise der Berliner Gruppe sind ihren Teilnehmern noch heute präsent, als Jugendliche in der Situation des unter alliierter Verantwortung stehenden West-Berlins war so eine Fahrt prägend. Umgekehrt wird es sicher ebenso sein. Von den Details aus dem politischen Alltag der Ost-West-Konfrontation noch vor dem Mauerbau im August 1961 blieb sicher die Erfahrung hängen, dass auch Angehörige der Alliierten nur mit gültigen Papieren nach und von West-Berlin reisen konnten, auch im Militärzug der Besatzungsmacht, die bereits zu der Zeit als „Schutzmacht“ angesehen wurden. Zwei Teilnehmer hatten deswegen einen um zwei Tage verlängerten Aufenthalt in Berlin.

                                                                                   Prof. Dr. Heinz-Eberhard Mahnke